Monday 10 July 2006

Gespenster

Toni und Nina leben in einer Blase, aus der sie entkommen wollen. Der Regisseur des Films, Christian Petzold, meint im Making Of, dass der Titel seinen Ursprung in den Computergenerierten Fotos von verschwundenen Kinder hat: diese fiktiven, erwachsenen Ichs sind Gespenster, und Nina und Tonis Leben scheint auch eher von einem Computer errechnet zu sein als ihrem eigenen Bestreben. Beide sind vollkommen wurzellos und ohne soziale Definition. Nina lebt ohne Eltern in einem Heim und geht nicht mehr zur Schule, Toni schlägt sich mit Diebstählen durch – wir treffen zwar im Laufe des Filmes Menschen, die sie kennen, aber befreundet ist sie mit niemandem. Gleichzeitig ähneln beide wilden Tieren, als sie aufeinander treffen. Sabine Timoteos Tina ist wie ein Raubtier, gierig, aktiv, während Nina das Gegenteil ist: verschreckt, vorsichtig, unglaublich verwundbar. Wie Julia Hummer im Interview meinte, aus Ninas Perspektive ist es eine Liebesgeschichte, aus Tonis eher nicht. Man sieht den schrecklichen Betrug von Anfang an, wenn Nina Toni Geld und ihr T-Shirt gibt, aber dafür nichts als einstweilige Duldung zurückbekommt. Wenn Tonis so offensichtlich erlogene Geschichte bei dem "Freundinnen-Casting" durchfällt, während man an der zögerlichen Stimme, welche die schreckliche, halbwahre Geschichte von Nina über Tonis Vergewaltigung am Anfang des Filmes einfach nicht vorbeikommt.
Beide Charaktere versuchen sich selbst mit Geschichten eine Identität zu geben, aber wirken doch in dieser falschen Künstlerwelt von Benno Führmanns Charakter fehl am Platz. Der perfekte Moment ist der surreale, Tanz vor rotem Hintergrund, in dem die gesamte Welt ausgeblendet ist und nichts mehr existiert als die Musik, auf diesen ultimativen Moment der vollkommen Verlorenheit und Unbestimmtheit läuft der Film hinaus. Doch am nächsten morgen ist der Moment vorbei. "Sie hat mit mir geschlafen, und dann ist sie verschwunden. Mir wäre lieber gewesen, wenn sie bei mir geblieben wäre."
Die zweite Geschichte ist das Negativ dazu. Die Französin Francoise hat vor Jahren ihre Tochter verloren – sie wurde vor einem Einkaufszentrum entführt, aus dem Bildschirm der Sicherheitskamera gezogen. Francoise reist immer wieder nach Berlin zurück und glaubt, in den Mädchen ihre Marie zu sehen – so natürlich auch in Nina. Am Ende, als Nina in ihr eigenes vollkommen gespensterhaftes Gesicht auf dem Computerausdruck blickt, sind wir davon überzeugt, dass sie Marie ist: seit damals spielt sich ihr Leben außerhalb der Sicherheitskameras ab, außerhalb der sozialen Definition eines Menschen.
Petzold hat unglaubliches Glück. Er hat offensichtlich das perfekte Team für den Film gefunden. Die Steady Cam Hans Fromms verleiht jedem einzelnen Bild das Gefühl von betäubender Langsamkeit, welche die Einsamkeit und Ziellosigkeit der Protagonisten noch verstärkt. Der Ton ist Präzise – die wenigen Lieder, vor allem die klassische Musik, die Francoise begleitet, unterlegen die Szenen.
Die Schauspieler – wobei man bei Julia Hummer niemals sicher ist, ob sie überhaupt spielt – füllen die Rollen perfekt. Das ist vielleicht der Film, in dem ich mich persönlich am meisten wiederfinde, ein Film, der fast zu intensiv ist, um ihn mit anderen Menschen zu teilen.

2005, Regie: Christian Petzold, mit Julia Hummer, Sabine Timoteo, Marianne Basler, Aurélien Recoing, Benno Fürmann, Anna Schudt.

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